Tinnitus - ein Experte antwortet

"Ich höre was, was Du nicht hörst": Tinnitus & Co. - Dr. med. Volker Kratzsch beantwortet häufige Fragen rund um das Symptom Tinnitus.

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Ist mein Tinnitus wirklich ein Ohrgeräusch? Die Geschichte einer Patientin.

Frau S. ist 56 Jahre alt, verheiratet, 2 Söhne (24 & 26 Jahre), leitet die Personalabteilung eines mittelständigen Unternehmens. Bei Nachfrage stellt sich heraus, dass Frau S. die einzige Mitarbeiterin im Bereich Personal ist, daneben aber noch für die Begleitung der Azubis, die Betreuung von Institutionen und aktuelle Projektaufgaben zuständig ist. Die Arbeit habe in den letzten Jahren kontinuierlich zugenommen, sie habe mehr Verantwortung übernehmen müssen, die versprochene personelle Unterstützung sei ausgeblieben. Als weiterer Belastungsfaktor muss Frau S. ihre Eltern bei vielen Tätigkeiten des Alltags (z. B. Einkaufen, Arzttermine) unterstützen.

Grund der Aufnahme in unsere Klinik ist ein Hörsturz vor 6 Monaten mit seither bestehender hochgradiger Innenohr-Schwerhörigkeit links und ein chronischer Tinnitus mit Geräuschempfindlichkeit. Die vom HNO-Arzt verordneten Infusionen und Tabletten hätten zu keiner spürbaren Besserung geführt, deshalb sei sie später nicht mehr zum Arzt gegangen. Krankgeschrieben war sie für 5 Tage, "mehr ging einfach nicht". Sie könne seither noch viel schlechter schlafen als vorher, liege häufig nachts wach, grübele über die Aufgaben des vergangenen und kommenden Tages oder habe Zukunftsängste. Für viele Interessen und Hobbies, auch die Pflege von Kontakten zu Freunden habe sie keine Kraft mehr, selbst ein Urlaub habe keine wirkliche Erholung gebracht.

Zugegeben, nicht jeder Patient in unserer Klinik hat so eine klassische Leidensvorgeschichte wie Frau S., aber eine Ausnahme ist diese Situation nicht. Wir würden uns wünschen, dass viele Betroffene - vielleicht auch die behandelnden Ärzte - die gesundheitliche Krise, die sich hier entwickelt hat, früher wahrnehmen würden und jemand einfach mal entschieden "STOPP" sagt. Meist wird dann die Diagnose eines Burnout gestellt. Die korrekte Diagnose wäre Erschöpfungsdepression, aber der Begriff Depression ist so negativ belegt wie die Bezeichnung Burnout reflexartig Verständnis hervorruft.

Wir sagen dann gern, Frau S. "hat viel um die Ohren, was zwischen den Ohren zu Tinnitus führt". Dahinter steht das Wissen, dass die Übersetzung des Begriffs Tinnitus als Ohrgeräusch schlichtweg unzutreffend ist: Als Tinnitus bezeichnet man ein Geräusch, das die Betroffenen wahrnehmen, welches aber nicht durch eine äußere Geräuschquelle hervorgerufen wird. Weil wir aber von Kind auf an die Erfahrung gemacht haben, dass alle Höreindrücke durch die Ohren von außen aufgenommen werden, spricht jeder von einem Ohrgeräusch. Dieser Eindruck, der Tinnitus entstände in den Ohren, ist aber falsch. Nach wissenschaftlichen Erkenntnissen der letzten Jahrzehnte entsteht Tinnitus im Bereich des Gehirns, wir werden später näher darauf eingehen.

In weiterer Konsequenz führt diese Fehleinschätzung aber dann auch dazu, dass Therapieansätze, die auf das Ohr gerichtet sind, vom Patienten als zielgerichtet und ursächlich angenommen werden. Unglücklicherweise bedienen diese Annahme auch viele im Internet kursierenden Therapien, die suggerieren Tinnitus könne so beseitigt werden. Dies führt meist zu nicht ganz preiswerten und völlig sinnlosen Bemühungen der Betroffenen, ihr Ohrgeräusch loszuwerden. Leider ist die Folge eine Art Teufelskreis der Frustration, verbunden mit erhöhtem Leidensdruck. Der Tinnitus nimmt mit zunehmender Aufmerksamkeit in der subjektiven Lautheit weiter zu, das Leiden wird also immer belastender und die Suche nach neuen, sicheren Therapien immer dringlicher. Dies nennen wir eine abwärts gerichtete Tinnitus-Spirale. Da Sie im Internet bei Eingabe des Begriffs Tinnitus bei "Dr. Google" ca. 20 Mio. Links angeboten bekommen, nimmt die Verwirrung und Verzweiflung hier eher exponentiell zu, denn ab. An dieser Stelle setzt eine seriöse Tinnitus-Therapie zunächst mit Informationen und Aufklärung an, um diese Spirale zu stoppen und das viele Sinnlose von realistischen Bemühungen zu trennen.

Seit wann gibt es eigentlich Tinnitus?

Wer glaubt, Tinnitus sei eine Thematik des 20. oder 21. Jahrhunderts, der irrt. Die ältesten Quellen zum Tinnitus datieren aus der Zeit um 1.000 Jahre v. Chr. Auch hat man bereits damals versucht Tinnitus zu behandeln:

„Wenn die Hand des Geistes einen Mann ergreift, und seine Ohren singen, so sollst Du Myrrhe zerreiben, in Wolle einrollen, und mit Zedernblut besprenkeln.“

Daraufhin war ein Zauberspruch aufzusagen. Hippokrates (460-370 v. Chr.) schrieb über die Ursache des Tinnitus, es sei eine krankhafte Störungen der inneren Harmonie und des biologischen Gleichgewichtes des Menschen. Der Begriff Tinnitus kommt aus dem Lateinischen: tinnire bedeutet pfeifen, klingeln.

Zu Zeit der Römer galt Tinnitus als eine Auszeichnung der Götter: die Vorstellung war, dass der Tinnitus eine verschlüsselte göttliche Botschaft darstellte, die der Betroffene nun seinen Mitmenschen offenbaren sollte. Martin Luther vermutete, der Teufel sei der Verantwortliche für seinen Tinnitus, Vincent van Gogh oder Ludwig van Beethoven sind weitere bekannte historische Beispiele. Der bekannteste Arzt des Mittelalters Paracelsus (1493-1541) beschrieb erstmals einen Zusammenhang zu Lärmschäden und Schwerhörigkeit. Heute sind Musiker wie Phil Collins, Campino oder Bono häufig genannte Tinnitus-Betroffene.

Symptom oder Krankheit?

Moderne Tinnitus Forschung beginnt mit einer Untersuchung zweier Amerikaner (Heller, Bergman 1953), die zeigen konnten, dass prinzipiell jeder Mensch Tinnitus hat, er aber in der Regel nicht wahrgenommen wird. Schätzungen gehen davon aus, dass in Deutschland ca. 3 % der Bevölkerung einen chronischen Tinnitus haben, aber nur die Hälfte dieser Personen (ca. 1,5 Mio.) darunter leidet. Die erste gute Botschaft lautet: diese Forschungsergebnisse und Zahlen zeigen, viele Menschen haben Tinnitus, aber nur wenige leiden darunter. Darüber hinaus verlieren viele Patienten auch ihren Tinnitus wieder ohne jegliche Therapie: in der Akutphase (innerhalb 3 Monaten nach erstmaligem Auftreten) 70-80 %, besteht der Tinnitus länger als 3 Monate (der Arzt spricht dann von chronisch) immerhin noch 15 % pro Jahr.

Die zweite gute Botschaft heißt: Tinnitus kann zwar nervig sein, aber Tinnitus ist keine Krankheit, d. h. er führt zu keinem Schaden (nichts geht kaputt, auch das Hören nicht) und in aller Regel nimmt die subjektive Belastung über die Zeit ab. Wir sprechen in der Medizin von Tinnitus als einem Symptom, d. h. Tinnitus ist ähnlich wie Schmerz ein Zeichen des Körpers, z. B. dass wir aus der Balance geraten sind. Die Ursache hierfür gilt es ärztlicherseits abzuklären.

Mein Tinnitus: was ist das eigentlich für ein - manchmal auch mehrere - Geräusch(e)?

Tinnitus kann einseitig, beidseitig oder auch mittig im Kopf wahrgenommen werden. Dabei hat die Lokalisation nichts mit dem Ursprung des Geräuschs zu tun: Tinnitus im rechten Ohr bedeutet eben nicht, dass der Tinnitus im rechten Ohr entsteht, sondern nur, dass wir ihn dort wahrnehmen. Neben dem häufigen hochfrequenten Pfeifton im Ohr, über das die meisten Patienten berichten, ist aber auch Brummen, Rauschen, Summen, selten Rattern oder Kreischen möglich.

Dabei kann sowohl die subjektive Lautheit, aber auch das Geräusch wechseln. Es können mehrere Töne auftreten, die teils konstant oder nur zeitweilig vorhanden sind. Abgegrenzt werden muss Tinnitus von Halluzinationen oder Wahnvorstellungen, wenn Patienten z. B. über Stimmen oder Musikstücke im Kopf berichten. Aus Untersuchungen wissen wir, dass der Tinnitus objektiv nicht wirklich laut ist, d. h. auch wenn der Betroffene über einen sehr belastenden lauten Tinnitus berichtet, kann das Geräusch in aller Regel von außen bereits mit geringen Lautstärken überdeckt werden.

…aber mein Tinnitus ist doch so ungeheuer laut…

In der Regel ist der Tinnitus abhängig von der Hörschwelle, d. h. liegt normales Hörvermögen vor, ist der Tinnitus mit einem Ton/Geräusch von 2 bis 20 dB überdeckbar.

Bei einer Schwerhörigkeit beträgt dann die Schwelle zur Überdeckung: Hörschwelle der Schwerhörigkeit plus 15 dB (z. B. bei mittelgradiger Schwerhörigkeit Hörschwelle 50 dB, Überdeckung mit bis zu 65 dB). In der Regel liegt dabei die Tinnitus-Frequenz im Frequenzbereich des größten Hörverlustes.

Dabei besteht kein Zusammenhang zwischen der Angabe der Überdeckung in dB und der subjektiven Lautheit, die der Patient empfindet: eine Tinnitus-Überdeckung von 2 dB über der Hörschwelle kann genauso unerträglich laut empfunden werden wie von 20 dB. Oder umgekehrt, kann eine Überdeckung von 20 dB vielleicht ohne jede Belastung durch den Patienten beschrieben werden.

Zusammenfassend bedeutet dies, die subjektive Lautheit, die der Patient empfindet, kann durch Hörprüfungen nicht objektiv gemessen werden. Auch hier wieder der Hinweis auf die gute Botschaft: Egal wie laut Sie Ihren Tinnitus wahrnehmen, kann er niemals zu einer Schädigung des Hörvermögens führen.

Warum belastet mich mein Tinnitus scheinbar mehr als andere?

Die Belastung entsteht durch die Bewertung von Informationen im Gehirn. Wir wissen heute:

  • An der Entstehung und Bewertung des Tinnitus sind viele Regionen des Gehirns, wir sprechen von einem neuronalen Netzwerk, beteiligt. Wichtig scheinen Bewertungsprozesse im Bereich des Thalamus (Mittelhirns) zu sein, die unsere Aufmerksamkeit und Emotionen steuern.
  • Diese Bewertungsprozesse sind bei Schmerz und Tinnitus durchaus ähnlich.
  • Stress kann die Wahrnehmung von Tinnitus durch Veränderungen in diesem Netzwerk deutlich verstärken.
  • Ängstliche und/oder depressive Menschen sind eher gefährdet, längere Zeit unter Tinnitus zu leiden.
  • Therapeutisch sind daher Ansätze zur Veränderung der Bewertung des Tinnitus und einer verminderten Aufmerksamkeit auf den Tinnitus erfolgversprechend (z. B. durch Entspannungstraining, Bewegung, Verhaltenstherapie).

Was können Ursachen für meinen Tinnitus sein?

Wir unterscheiden körperliche Ursachen von seelischen Ursachen, dabei gelingt nicht selten keine eindeutige Zuordnung. Die bei weitem häufigste körperliche Ursache ist die Schwerhörigkeit, der ihrerseits wieder ganz unterschiedliche Ursachen zu Grunde liegen können. Hintergrund ist, dass der Verlust von Höreindrücken in bestimmten Frequenzen den bei allen Menschen quasi als Grundrauschen vorhandenen Tinnitus nicht mehr überdecken kann. Dies ist auch die Erklärung, warum Menschen, die nichts hören können (Ertaubte, Gehörlose), nicht selten unter Tinnitus leiden. Therapeutisch verspricht die Versorgung mit einem Hörgerät durch die Wiederherstellung von Höreindrücken bei Schwerhörigkeit die erneute Überdeckung des Tinnitus-Geräuschs in der Wahrnehmung. Viele Schwerhörige berichten daher, dass die Nutzung eines gut angepassten Hörgerätes zu einer deutlichen Entlastung ihres Tinnitus geführt habe.

1. Körperliche Ursachen

  • alle Formen der Schwerhörigkeit, u. a. durch
    • Hörsturz
    • Otosklerose
    • chronische Entzündungsprozesse des Ohres (Otitiden)
    • chronische Lärmschädigung oder Knall-Traum
    • Morbus Menière (Schwerhörigkeit, Tinnitus, Schwindel-Attacken)
    • Alters-Schwerhörigkeit
    • Belüftungsstörungen des Mittelohres
    • Verletzungen des Trommelfells
  • seltene Ursachen
    • Funktionsstörungen der Halswirbelsäule und Schulter-Nacken-Muskulatur
    • Funktionsstörungen des Kiefergelenks
    • internistische Erkrankungen, z. B. Bluthochdruck, Stoffwechselerkrankungen
    • neurologische Erkrankungen, z. B. multiple Sklerose, Akustikusschwannom
    • sehr selten: objektiver Tinnitus, z. B. durch Strömungsgeräusche von Gefäßen

2. Seelische Ursachen

  • Depression
  • Angsterkrankungen
  • Stressbelastung im Rahmen ungelöster chronischer Konflikte im beruflichen oder privaten Umfeld

Auswirkungen von Tinnitus – was ist Ursache, was ist Folge?

Die Frage scheint zunächst für viele Patienten einfach: Sie sind überzeugt, dass der Tinnitus für viele weitere Belastungsfaktoren verantwortlich ist, die in der Abbildung aufgeführt sind. Die Pfeilrichtung würde also immer vom Tinnitus weg auf die übrigen Belastungen führen.

Zum Beispiel ist eine häufig geäußerte Klage: "Seit ich den Tinnitus habe, schlafe ich sehr schlecht". Bei Nachfragen stellt sich aber oft heraus, auch vor dem Tinnitus war das Schlafen nicht wirklich gut, d. h. einerseits kann eine Schlafstörung die Belastung durch Tinnitus erhöhen, umgekehrt schlafe ich schlechter, wenn der Tinnitus nachts nervt. Dabei schläft man wegen des Tinnitus schlecht ein, wacht aber nicht nachts wegen des Tinnitus auf, sondern wacht auf und schläft wegen des Tinnitus häufig nicht wieder gut ein. Die Beziehung ist also komplexer als vom Patienten wahrgenommen. Die Wechselwirkung mit dem Tinnitus gilt für alle hier aufgeführten Belastungsfaktoren außer der Schwerhörigkeit: hier wurde bereits erläutert, dass die Schwerhörigkeit den Tinnitus bedingen kann, aber niemals Tinnitus schwerhörig macht. Das bedeutet, dass eine Beeinflussung der Belastungen bezüglich Tinnitus in beide Richtungen der realen Situation näher kommt. Daraus ergibt sich zwangsläufig, dass die Patientenhoffnung oder -erwartung, wenn der Tinnitus beseitigt wäre, würden auch alle anderen Beschwerden verschwinden, unrealistisch ist.

Übersichtsmodell - Wechselwirkungen zwischen Tinnitus und Belastungsfaktoren.

Noch weitergehend gibt es viele Untersuchungen, die nahelegen, dass der Tinnitus ein Stresssymptom unter vielen darstellt. Besser wäre daher, den Stress als Auslöser in den Mittelpunkt zu stellen, der verschiedene Belastungsfaktoren verstärken kann, die dann selbst wieder als Stressoren wirken. Einer dieser körperlichen Symptome wäre dann der Tinnitus.

Übersichtsmodell zu Stress - Tinnitus als einer der Belastungsfaktoren von Stress.

Darüber hinaus bedürfen auch mögliche soziale Folgen der Tinnitusbelastung der Berücksichtigung im Rahmen einer ambulanten oder stationären Rehabilitation:

  • Belastungen im privaten oder beruflichen Umfeld durch die Erkrankung und der Folgen
  • ggf. bestehende lange Arbeitsunfähigkeitszeiten, drohende Berufsunfähigkeit
  • soziale Isolation
  • finanzielle Notlagen durch Einkommensverluste

Welche Untersuchungen sollten bei Tinnitus durchgeführt werden?

Beim ersten Auftreten eines Tinnitus (akuter Tinnitus) ist Ihr HNO – Arzt erster Ansprechpartner. Er untersucht die Ohren, das gesamte Gehör und weitere Organe. Im Gespräch erhebt er die bisherige Krankheitsgeschichte. Er fragt nach dem Beginn, nach eventuellen Auslösern wie etwa Lärmbelastung oder Stress und nach Vorerkrankungen. Er wird Sie zudem die Ohrgeräusche genau beschreiben lassen. Folgende Untersuchungen werden in der Regel durchgeführt:

  • Untersuchung des Ohres (Ohrmikroskopie) sowie des Nasenrachenraums
  • Hörtest (Ton ggf. zusätzlich Sprach-Audiometrie) mit  
    • Tinnitus-Matching zur Erkennung von Lautstärke und Frequenz des Geräuschs
    • bei Hyperakusis: Bestimmung der Unbehaglichkeitsschwelle
  • Hirnstammaudiometrie zur Überprüfung des Hörnervs (FAEP)
  • Haarzellfunktionsuntersuchung (OAE)
  • ggf. Funktionsprüfung: Zahn- oder Kieferfehlstellungen, Bluthochdruck und Probleme der Halswirbelsäule/Schulter-Nacken-Muskulatur, Gleichgewichtsprüfung

Bei chronischem Tinnitus (länger als 3 Monate) empfehlen wir die einmalige Durchführung einer Computertomographie oder Kernspintomographie des Kleinhirnbrückenwinkels zum sicheren Ausschluss eines Akustikusschwannoms.

Welche Therapie ist wann sinnvoll?

Ausführlichen Aufschluss über den aktuellen Stand der Therapieempfehlungen gibt die 2015 veröffentlichte S3-Leitlinie "chronischer Tinnitus" der Deutschen Gesellschaft für HNO-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie. Darüber hinaus wurde in Zusammenarbeit mehrerer europäischer Tinnitus-Forschungsgruppen eine erste Europäische Tinnitus-Leitlinie zur Diagnostik und Therapie erarbeitet, die im März 2019 veröffentlicht wurde:.

Trotz aller Leitlinien muss eine Therapie auch immer die individuellen Bedürfnisse des Einzelnen berücksichtigen.   

1. akuter Tinnitus

Tritt ein Tinnitus neu auf, sollte innerhalb von 5 Werktagen der Arzt (optimal der HNO-Facharzt) aufgesucht werden. Der Arzt wird dann die oben angeführten Untersuchungen veranlassen und Sie zum weiteren Vorgehen beraten. Zu unterscheiden sind grundsätzlich zwei wesentliche Situationen:

  • akuter Tinnitus mit neu aufgetretenem Hörverlust ohne erkennbare Ursache:
    Dies entspricht der Definition des Hörsturzes (plötzlicher Hörverlust ohne erkennbare Ursache) mit zusätzlich aufgetretenen Tinnitus. Behandelt wird jetzt der Hörverlust mit kurzzeitiger hochdosierter Kortison-Gabe (als Tablette oder Spritze über ca. 1 Woche oder einmalig lokal hinter das Trommelfell). Die Hoffnung ist, dass über eine Besserung des Hörvermögens auch die Tinnitus-Wahrnehmung zurückgeht. Darüber hinaus Krankschreibung, Bewegung, Entspannung.
  • akuter Tinnitus ohne neu aufgetretenem Hörverlust:
    Eine spezifische Therapie des Tinnitus mit Tabletten oder Infusionen steht nicht zur Verfügung. Information, Krankschreibung, Bewegung, Entspannung wird geraten.

 

2. chronischer Tinnitus

Chronische Tinnitus-Betroffene sollten unbedingt von Tinnitus-Patienten unterschieden werden:

  • Tinnitus-Betroffene: Haben einen länger als 3 Monate bestehenden Tinnitus ohne wesentliche Einschränkungen der Lebensqualität ("Habe Tinnitus, wäre schön, wenn er wegginge, aber komme im Wesentlichen damit klar.").
  • Tinnitus-Patienten: Haben einen länger als 3 Monate bestehenden Tinnitus mit deutlicher Einschränkung der Lebensqualität ("Seit ich den Tinnitus habe, schlafe ich schlecht, habe Konzentrationsstörungen, bin geräuschempfindlich, reizbar.").

Bei Tinnitus-Betroffenen geht es in erster Linie um die Durchführung der o. g. Diagnostik zum Ausschluss einer körperlichen oder seelischen Ursache, umfangreiche Informationen rund um das Thema Tinnitus sowie den Abbau von Angst und Unsicherheit. Eine spezifische Therapie ist oft weder erforderlich noch sinnvoll.

Für Menschen, die deutlich durch den Tinnitus und eine eingeschränkte Lebensqualität beeinträchtigt sind, hat sich ein multimodales Therapiekonzept bewährt. Dabei sollte bereits zu Beginn kommuniziert werden, dass die nachvollziehbare Hoffnung oder Erwartung des Patienten auf eine Heilung vom Tinnitus durch keinerlei therapeutische Interventionen realistisch in Aussicht gestellt werden kann. Der erste und wichtigste Schritt auf dem Weg zu einer verbesserten Tinnitus-Akzeptanz ist daher die Vereinbarung eines erreichbaren Therapieziels: der Tinnitus-Patient soll durch Erfahrungen in unterschiedliche Therapiebereichen für sich eine Möglichkeit erarbeiten, mit Tinnitus und den Folgesymptomen besser umgehen zu können.

Grundsätzlich sollte immer versucht werden, zunächst über ambulante Therapie-Angebote zu einer verbesserten Tinnitus Akzeptanz zu gelangen. Meist kommen hier zunächst einzelne Therapiebausteine (z. B. Erlernen eines Entspannungstrainings, Bewegung, Anleitung zu Stress-Abbau) zur Anwendung. Erst wenn die ambulante Therapie keinen Erfolg gebracht hat, kommt eine stationäre Reha in Betracht.   

Zusammenfassend haben sich in der stationären Rehabilitation folgende Therapiebausteine in einem multimodalen Konzept bewährt und werden auch in den genannten Leitlinien empfohlen (Kommentar: englisch "recommendation" = Empfehlung):

  • ausführliche Informationen zu allen Aspekten rund um Tinnitus, Geräuschempfindlichkeit, Schwerhörigkeit und Schwindel-Symptomatik (Counselling)
  • verhaltenstherapeutische Interventionen in Einzel- und Gruppentherapie mit dem Ziel einer Umbewertung des Tinnitus hin zu verbesserter Akzeptanz ("Der Tinnitus ist nicht weg, aber ich kann wieder besser schlafen, die Stimmung hat sich deutlich verbessert und die Angst, dass der Tinnitus mein Leben bestimmen könnte, ist in den Hintergrund getreten.") (Europäische Leitlinie: "strong recommendation for")
  • Erfahrungsaustausch mit anderen Gleichbetroffenen
  • Anleitung zu verbesserten Umgang mit Stress (z. B. Zeit- und Konflikt-Management)
  • Achtsamkeitstraining
  • Aufmerksamkeitsumlenkung durch Wahrnehmungstraining
  • Erlernen von Entspannungstechniken (z. B. progressive Muskelentspannung, QiGong, Schlafschule)
  • Motivation zu Sport und Bewegungs-Therapie (z. B. Walking, Rückenschule, Gleichgewichtstraining), Ergotherapie, Physiotherapie
  • ggf. Hörgeräteberatung und -verordnung
  • Beratung zu sozialen Fragestellungen (GdB, Wiedereingliederung, beruflicher Qualifizierung, Voraussetzung von Renten etc.)
  • wenn notwendig, medikamentöse Unterstützung bei Schlafstörung oder Depression
  • wichtig: es gibt nichts, was wegen Ihres Tinnitus verboten ist! Vermeiden Sie es unbedingt, bestimmte Dinge, die Ihnen wichtig oder lieb sind, wegen des Tinnitus nicht zu machen, aus Angst vor einer Zunahme des Geräuschs. Dann schnappt die Falle zu, weil Sie wesentliche Aspekte ihres Lebens vom Tinnitus abhängig machen (falsch: z. B. "Erst wenn mein Tinnitus wieder besser ist, kann ich wieder..." oder "Wenn ich das mache, würde mein Tinnitus morgen wieder lauter sein, deshalb muss ich darauf verzichten.")
  • Ziel: Veränderung im Alltag nach der Reha: Elemente, die mir während der Reha gut getan haben, soll ich in meinen Alltag integrieren (ohne Veränderung im Alltag ist eine dauerhafte Verbesserung nicht möglich); verbesserte Akzeptanz auch in Belastungssituationen durch Überwindung der Hilflosigkeit

Fazit - Bei allen guten und richtigen Therapiekonzepten muss Ihnen klar sein:

  • Die stationäre Reha soll bei Ihnen den Einstieg in einen Veränderungsprozess im Denken und Handeln anstoßen.
  • Sie werden Ihren Tinnitus wieder mit nach Hause nehmen müssen, nicht als Feind, sondern als "lästigen Begleiter".
  • Die Reha bietet Ihnen viele Schnupperkurse von Möglichkeiten an, an deren Ende Sie nicht therapiert sind, sondern selbst einschätzen können sollen, was für Sie ein guter und erfolgversprechender Weg einer Umsetzung im Alltag sein kann, um die gesundheitlichen Belastungen zu minimieren.
  • Rat: Fangen Sie dabei mit kleinen Veränderungsschritten an, damit der innere Schweinehund keine Chance hat, Ihre Motivation zu untergraben und damit den Erfolg zu verhindern.

Welche Therapien sind hilfreich?

In der aktuell veröffentlichten Europäischen Leitlinie Tinnitus (März 2019) wird zu vielen solcher "guten" Ratschlägen aus angeblichen Fachkreisen, von Familienangehörigen, Freunden, Kollegen oder aus dem Internet Stellung bezogen. Hier ein Überblick:

  • eine starke Empfehlung ("strong recommendation for") wird ausgesprochen für:
    • kognitive Verhaltenstherapie
  • positive Bewertung für ("recommendation for"):
    • Entspannungsverfahren
    • Selbsthilfe
    • Counselling
  • eine schwache Empfehlung ("weak recommendation for") wird ausgesprochen für:
    • Hörgeräte bei begleitender Schwerhörigkeit und
    • Cochlear Implantat Versorgung bei Taubheit
  • keine Empfehlung ("no recommendation") gibt es für eine Therapie mit:
    • transcranieller Elektrostimulation
    • Vagusnerv-Stimulation
    • akustischer Neurostimulation (Acoustik CR®)
    • Sound Therapie (incl. notched music therapy, "Noiser")
    • Akupunktur
  • eine Empfehlung gegen eine Behandlung ("recommendation against") wird ausgesprochen für:
    • Jede medikamentöse Therapie oder Nahrungsergänzungsmittel (z. B. Ginkgo, Melatonin) für den akuten noch den chronischen Tinnitus. Lediglich bei Hörsturz mit Tinnitus wird versucht über eine kurzzeitige Cortison-Therapie den Hörverlust zu minimieren. Die Hoffnung ist, dass sich über die Wiederherstellung des Hörvermögens der Tinnitus in der Wahrnehmung reduziert.
    • transcranielle repetitive Magnetstimulation

Was versteht man unter der Tinnitus-Spirale?

Ein Beispiel: Tante Herta ruft an und teilt Ihnen mit, dass Sie in der Illustrierten beim Friseur einen Artikel gelesen habe, dass neuste Forschungsergebnisse aus den USA belegen, dass durch Akupunktur selbst ein lange bestehender und belastender Tinnitus beseitigt werden könne. Und da habe sie natürlich sofort an Sie gedacht. Da sollten Sie jetzt aber ganz schnell einen Termin machen.

Sie haben schon so viel wegen des Tinnitus unternommen, aber bisher nicht das Richtige gefunden und keiner konnte helfen. Akupunktur denken Sie, der HNO-Arzt hat zwar gesagt, dass bringe nichts, aber vielleicht kennt der diese neuen amerikanischen Studien noch nicht.

Endlich scheint das Ziel, den Tinnitus los zu werden, doch wieder in greifbarer Nähe. Im Internet machen Sie sich schlau und finden mehrere Therapeuten, die Akupunktur bei Tinnitus anbieten, aber leider alle über 300 km entfernt von Ihrem Wohnort und günstig ist die Behandlung auch nicht. Aber was nichts kostet, taugt nichts und was bedeuten 1.000 € zuzüglich Fahrt, wenn davon der Tinnitus verschwindet. Der Therapeut hat leider erst in einem halben Jahr einen Termin - spricht aber dafür, dass der gut ist und viele Leute können nicht irren.

Endlich ist es soweit. Sie nehmen 3 Tage Urlaub und los geht's. Tolle, moderne Praxis, nette Helferinnen, toller Service (es gibt einen Latte macchiato). Leider hat der Therapeut nicht viel Zeit. Klar bei der Nachfrage, schwärmt aber von vielen zufriedenen Patienten. Nach Unterschrift unter Aufklärungsbogen ("leider klappt's nicht immer") und 10 Seiten Datenschutzaufklärung erfolgt die Akupunkturbehandlung. Sie fühlen sich gleich viel besser, der Tinnitus ist schon viel leiser.

Am Montag bei der Arbeit ärgert Sie der Chef und der Tinnitus feiert ein Comeback. Sie haben den Eindruck der Bursche ist lauter als jemals zuvor. Es ist wirklich zum Verrücktwerden. Was sollen Sie denn noch tun? Heute Abend werde ich noch einmal im Internet recherchieren.

Viele Patienten sind bereit, sich auch gegen jede Vernunft und jeden seriösen Ratschlag immer wieder auf obskure Therapieversprechungen einzulassen. In einer amerikanischen Studie wurden 20.000 bis 30.000.-$ genannt, die Patienten im Schnitt ausgaben, um den Tinnitus los zu werden. Lassen Sie es mich klar formulieren:

Wer Ihnen verspricht, Ihren Tinnitus beseitigen zu können, ist nicht an Ihrem Tinnitus, sondern ausschließlich an Ihrem Portemonnaie interessiert!

Aber wenn Sie - vielleicht schmerzvoll - lernen mussten, dass es die einfache Lösung mit Tabletten, Infusionen, Sauerstoff, Akupunktur oder Musik nicht gibt, droht zusätzlicher Frust. In unserem Beispiel teilen Sie Tante Herta mit, dass Ihr Vorschlag lieb gemeint, aber nicht erfolgversprechend sei. Die alte Dame ist daraufhin echt sauer und sagt, wenn Sie nichts machen wollten, dann seien Sie doch selbst an Ihrem Tinnitusleiden schuld. In Zukunft will sie darüber dann auch keine Klagen mehr von Ihnen hören.

Folgend eine schematische Darstellung der abwärts gerichteten "Tinnitus-Spirale":

Schaubild zur Tinnitus-Spirale.

Ambulante oder stationäre Reha?

Grundsätzlich gilt, dass ambulante Möglichkeiten vor der Einleitung einer stationären Reha ausgeschöpft sein sollen.

Für eine ambulante Rehabilitation spricht:

  • deutlich geringerer Aufwand durch Therapie vor Ort, insbesondere von Vorteil
    • für alleinerziehende Mütter oder Väter
    • bei Alltagspflichten z. B. durch Betreuung von Angehörigen (Eltern, Kinder)
    • bei starker beruflicher Abhängigkeit (z. B. Selbstständige, Entscheidungsträger)
  • keine künstliche Situation ("Käseglocke") durch Verbleib im Alltag
  • oft schon ausreichender Therapieeffekt bei nicht sehr hoch belasteten Patienten
  • geringere Kosten

Für eine stationäre Rehabilitation spricht:

  • erfolglose ambulante Rehabilitation (ambulante therapeutische Möglichkeiten wurden ausgeschöpft und konnten zu keiner Stabilisierung der Symptomatik führen)
  • fehlende ambulante Therapieangebote (z. B. im ländlichen Raum)
  • körperliche Belastungen wie erhebliche Schlafstörung, Schmerzen insbesondere im Bereich der Halswirbelsäule bzw. Schulter-Nacken-Muskulatur, Geräuschempfindlichkeit, Schwindel, Leistungs- und Konzentrationseinschränkung
  • schwere Belastung insbesondere der psychischen Gesundheit (Depression oder Angst-Erkrankung)
  • hochgradige Kommunikationsbehinderung, die z. B. den Zugang zu ambulanten Therapien (z. b. Psychotherapie) erheblich einschränken
  • Die gesundheitlichen Belastungen haben zu längerer Arbeitsunfähigkeit (mit Bezug von Krankengeld oder ALG I oder II) geführt.
  • Wenn Sie einen Rentenantrag gestellt haben, wird vermutlich die Rentenversicherung eine Reha verbindlich vorschlagen.
  • Erhebliche berufliche oder private Konflikt-Situation, die eine Herausnahme aus der Alltags-Situation sinnvoll erscheinen lässt, um eine erfolgreiche Therapie zu ermöglichen.
  • notwendige Auszeit (z. B. bei körperlich schwerer Arbeit oder permanente Überforderung durch Kommunikation bei hochgradiger Hörbehinderung)

Wie geht es nach einer stationären Reha weiter?

Grundsätzlich gilt: Ohne IHRE Umsetzung von den in der Reha erlernten Veränderungen im Alltag wird keine Verbesserung Ihrer Belastungen erreichbar sein können!

Zunächst liegt dies in Ihrer Verantwortung, aber die Rahmenbedingungen für eine weitere Anleitung und Unterstützung haben sich dafür aktuell verbessert, da die Sensibilität für die Notwendigkeit einer Überleitung in ambulante Therapiemodule von allen Seiten deutlich zugenommen hat. So haben die Rentenversicherungsträger aktuell 2019 neue Strukturen für ihre Nachsorge-Konzepte (z. B. T- RENA, IRENA, Psy-RENA) geschaffen, die eine sinnvolle Ergänzung stationär eingeleiteter Therapie-Prozesse darstellen.

Als Zukunftsoption wäre die Einführung von Auffrischungsprogrammen nach einer Rehabilitation überlegenswert, z. B. nach einem oder zwei Jahren, um die Motivation für Veränderungen und den erzielten Therapieerfolg abzufragen und zu stabilisieren. Auch eine Vernetzung von ambulanten und stationären Rehaangeboten hat sicher an einigen lokalen Schwerpunkten begonnen, ist aber noch weit von der Regellösung entfernt.

Wer hat Anspruch auf eine Rehabilitation?

Anspruch auf eine ambulante und/oder stationäre Rehabilitation hat grundsätzlich jeder. Reichen Maßnahmen der ambulanten Rehabilitation nicht aus, um die gesundheitlichen Ziele zu erreichen, kann eine stationäre Rehabilitation bewilligt werden (§ 40 SGB V, § 9 SGB VI). Grundsätzlich gilt medizinisch immer die Prämisse: Ambulante vor stationärer Therapie! Ein akuter Tinnitus (innerhalb der ersten drei Monate nach dem ersten Auftreten) wird nur unter ganz besonderen Bedingungen und als absolute Ausnahme Grund für eine stationäre Rehabilitation sein können.

Anhand der Zahlen über den chronischen Tinnitus soll deutlich gemacht werden, wie sich die Gewichtung zwischen ambulanten und stationären Maßnahmen darstellt:

In Deutschland geht man nach der Untersuchung der DTL (Deutsche Tinnitus-Liga e. V.) von ca. 3 Millionen Menschen mit einem chronischen Tinnitus aus. Nur die Hälfte davon gibt an, unter dem Tinnitus oder Auswirkungen des Tinnitus zu leiden. Selbstverständlich ist nur für diese 1,5 Millionen Patienten eine Therapie überhaupt sinnvoll. Bei der großen Mehrheit dieser Patienten reichen ambulante ärztliche und/oder psychologische Therapieverfahren aus, um eine Stabilisierung der persönlichen Situation zu erreichen. Nur bei einer kleinen Gruppe von Patienten, denen ambulant nicht hinreichend geholfen werden kann, sind stationäre Rehabilitationen notwendig.

Verlässliche Daten über die Zahl stationärer Rehabilitationen bei chronischem Tinnitus liegen nicht vor. Aufgrund von Daten der DRV Bund und eigenen Schätzungen dürfte die Zahl von 5.000-6.000 stationären Tinnitus-Reha-Patienten pro Jahr in Deutschland aber nicht überschritten werden.

Wie lange dauert eine stationäre Tinnitus-Reha?

Die Leistungen zur stationären Rehabilitation sollen für einen Zeitraum von längstens drei Wochen, können aber auch für einen längeren Zeitraum bewilligt werden, wenn dies erforderlich ist, um das Rehabilitationsziel zu erreichen (§ 15 Abs. 3 SGB VI, § 40 Abs. 3 SGB V). Das heißt, die Dauer der medizinischen Rehabilitation wird durch die Indikation und den Therapiefortschritt während der Maßnahme wesentlich bestimmt. Wird eine stationäre Rehabilitation bei Tinnitus bewilligt, so sind viele Kostenträger dazu übergegangen, einen 4- bis 5-wöchigen Aufenthalt zu genehmigen. Verlängerungen werden anhand Ihrer gesundheitlichen Situation mit Ihnen als Betroffenem vereinbart und müssen durch den Kostenträger genehmigt werden. Rechnen Sie aber orientierend eher mit einem 4- als 3-wöchigen Aufenthalt.

Nach welchem zeitlichen Abstand können Sie eine stationäre Rehabilitation wiederholen?

Leistungen zur medizinischen Rehabilitation werden nicht vor Ablauf von vier Jahren solcher oder ähnlicher Leistungen zur Rehabilitation erbracht, es sei denn, eine vorzeitige Leistung ist aus medizinischen Gründen dringend erforderlich (§ 12 Abs. 2 SGB VI, § 40 Abs. 3 SGB V).

Dieser Punkt führt immer wieder zu Missverständnissen und berechtigter Kritik. Niemand bekommt eine Rehabilitation unabhängig von der medizinischen Notwendigkeit nach vier Jahren vom Kostenträger bewilligt, nur weil dieser vorgegebene Zeitraum vorbei ist. Eine Rehabilitation wird nach berechtigterweise strengen Kriterien immer von der medizinischen Notwendigkeit abhängig gemacht. Ist diese medizinische Indikation gegeben, ist aber auch nach der Gesetzeslage unabhängig von bestimmten Zeitintervallen immer eine Rehabilitation zu gewähren.

Grundsätzlich gilt daher: eine Rehabilitation wird nach medizinischer Indikation bei entsprechender Dringlichkeit unabhängig von Zeitintervallen bewilligt.

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Dr. med. Volker Kratzsch von der VAMED Rehaklinik Bad Grönenbach

Wer bezahlt Ihre stationäre Rehabilitation?

Vereinfachend gilt folgende Faustregel:

  • Bei allen Erwerbstätigen trägt der Rentenversicherer (DRV Bund oder DRV lokal -früher LVA) die Kosten für die Rehabilitation.
  • Bei allen Nicht-Erwerbstätigen (Hausfrauen, Rentner, Studenten, Arbeitslosen) kommt die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) für die Kosten einer Rehabilitation auf.

Wie bei allen Bestimmungen gibt es eine Reihe von Ausnahmen und Sonderregelungen, so ist z. B. die gesetzliche Unfallversicherung (Berufsgenossenschaft) Träger der Rehabilitation bei allen Folgen von Berufsunfällen.

Aktuell beträgt der Eigenanteil des Rehabilitanden 10.- € pro Tag für eine Rehabilitationsdauer von maximal 42 Tagen. Arbeitslose, Sozialhilfe-Empfänger und Personen ohne Einkommen sind von der Zuzahlung freigestellt. Patienten mit geringem Einkommen können sich befreien lassen, fragen Sie hier bei den Servicestellen nach.

Wie und wo kann ich einen Antrag auf eine Reha stellen?

Mit der Einführung des Sozialgesetzbuches IX (SGB IX) ist das Verfahren wesentlich patientenfreundlicher gestaltet worden. So wurden in allen Landkreisen und kreisfreien Städten sogenannte gemeinsame „Servicestellen“ eingerichtet, in denen alle Träger von Rehabilitationsleistungen (gesetzliche Krankenversicherung, Rentenversicherung, Berufsgenossenschaften) den Antragsteller gemeinsam beraten.

Hier können Sie alles über

  • die erforderlichen Verwaltungsabläufe,
  • die notwendigen Anträge,
  • Lohnfortzahlung,
  • Übergangsgelder,
  • die Voraussetzungen und
  • die Zuständigkeiten der einzelnen Kostenträger sowie
  • anstehende Kosten (Eigenbeteiligungen und ggf. Befreiungen) erfahren.

Am besten erkundigen Sie sich direkt bei Ihrer Krankenkasse nach der Anschrift dieser Servicestelle in der Nähe Ihres Wohnortes. Aber auch in anderen praktischen Bereichen wurden die Patientenrechte gestärkt: die Kostenträger prüfen bei einem Antrag zunächst die medizinische Notwendigkeit. Ist diese festgestellt, müssen die Kostenträger sich untereinander verständigen, wer für die Kosten zuständig ist. Früher führte dies nicht selten zu einem langen Streit zwischen Rentenversicherung und Krankenkasse, der Patient konnte die notwendige Rehabilitation aber nicht antreten. Heute wird die Maßnahme bewilligt und kann begonnen werden, die Kostenträger müssen sich dann untereinander verständigen. 

Auch bei der Bearbeitungsfrist gibt es heute klare Vorgaben: Über einen Antrag auf Rehabilitation muss innerhalb einer Frist von längstens fünf Wochen entschieden sein. Damit besteht innerhalb einer überschaubaren Zeit für alle Beteiligten Klarheit.

Auch wurde das Wunsch- und Wahlrecht des Patienten für die Auswahl der Klinik deutlich gestärkt. In der Regel wird der zuständige Kostenträger versuchen, Ihrem Klinikwunsch zu entsprechen. Daher empfehlen wir Ihnen: Machen Sie von dem Ihnen gesetzlich eingeräumten Wunsch- und Wahlrecht gemäß § 8 SGB IX Gebrauch und geben Sie und auch Ihr behandelnder Arzt bei Antragstellung eine oder mehrere medizinisch geeignete Wunschkliniken an.

Der wichtigste und entscheidendste Punkt für die Erfolgsaussichten Ihres Reha-Antrages ist das ärztliche Attest. Deshalb sollten Sie mit Ihrem Arzt darauf achten, dass einige wichtige Punkte für die Prüfung beim Kostenträger klar erkennbar sind:

  • Wegen welcher medizinischen Gründe ist eine Rehabilitation unbedingt erforderlich?
  • Reichen ambulante Therapie-Möglichkeiten aus oder warum erscheint aus ärztlicher Sicht eine stationäre Rehabilitation unbedingt erforderlich? Bisher durchgeführte, aber nicht erfolgreiche Therapien sollten aufgeführt werden, um die Dringlichkeit und stationäre Reha-Notwendigkeit zu verdeutlichen.
  • Bei Erwerbstätigen: Ist die Arbeitsfähigkeit, vielleicht sogar die Erwerbsfähigkeit, gefährdet? Ist durch eine stationäre Rehabilitation damit zu rechnen, dieses Risiko zu minimieren?
  • Achten Sie auf eine klare Definition des Therapieziels (nicht der Tinnitus soll beseitigt werden, sondern Lernen damit umgehen zu können), d. h. eine Verbesserung der bestehenden Beschwerden im Alltag und die Anleitung zur Selbsthilfe.
  • Geben Sie darüber zwei oder drei Wunsch-Kliniken an, in denen diese Therapie-Schwerpunkte gewährleistet sind.

Vorschlag: Für 15,00 € erhalten Sie den Klinik-Wegweiser der Deutschen Tinnitus Liga. Hier finden Sie zwei „Musteranträge“, die Ihnen und Ihrem Arzt eine Orientierung sein können, aber nie Ihre individuelle Situation berücksichtigen können. Ihre Chancen sind dann am Größten, wenn Sie dem Gutachter bei der Krankenkasse oder der Rentenversicherungsträger Ihre individuelle Belastung durch den chronischen Tinnitus und die bisher nicht ausreichende Bewältigung verdeutlichen können. Dies gelingt, wenn Sie die wichtigen Informationen dieses „Musterantrages“ mit Ihrer persönlichen Situation verbinden.

Was tun, wenn Ihr Reha-Antrag abgelehnt wurde?

Leider werden erste Anträge manchmal von den Kostenträgern zunächst abgelehnt. Zögern Sie daher nicht, Widerspruch einzulegen, wenn Sie und Ihr Arzt von der Notwendigkeit einer stationären Rehabilitation überzeugt sind. Sollte auch der Widerspruch abgelehnt werden, was erfahrungsgemäß deutlich seltener ist, können Sie auch dagegen Widerspruch einlegen. Hier ist zu empfehlen, sich Unterstützung, z. B. durch den VDK oder die Selbsthilfe-Organisationen einzuholen.

zuletzt geändert am: 21.06.2019

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